Pressekonferenz zur Jahrestagung 2015: Aus den Laboren zu unseren Patienten – Wissenstransfer und Patientensicherheit als zentrale Faktoren einer modernen Krebstherapie
In der Hämatologie und Onkologie findet derzeit ein wahrer Forschungs- und Innovationsboom statt. Gleichzeitig nimmt die Halbwertszeit des medizinischen Wissens dramatisch ab. Welche Herausforderungen eine solche Entwicklung an die in der Therapie von Blut- und Krebserkrankungen Tätigen stellt, diskutieren etwa 5.000 Experten auf der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie in Basel. Dabei bilden die Themen Wissenstransfer und Patientensicherheit zwei Schwerpunkte des Kongresses.
Die Zulassungsfrequenz neuer Medikamente zur Behandlung von Blut- und Krebserkrankungen steigt. Zeigen frühe Daten aus klinischen Studien für neue Substanzen signifikant bessere Ergebnisse im Vergleich zu bereits auf dem Markt befindlichen Medikamenten, können die Zulassungsbehörden in Europa und den USA einen besonderen Zulassungsstatus zuerkennen und einen schnelleren Marktzugang ermöglichen. Davon haben in jüngster Zeit gezielte orale Arzneimittel und Immuntherapeutika profitiert. Bei der seit 2011 in Deutschland durchgeführten Frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Rahmen des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) werden die onkologischen Substanzen überdurchschnittlich gut bewertet. „Was wir derzeit erleben, ist nicht das Fehlen von Innovationen, sondern vielmehr die dramatische Zunahme von Wissen, beispielsweise bei der Entwicklung von monoklonalen Antikörpern oder immuntherapeutischen Substanzen. Dabei werden die uns zur Verfügung stehenden Wirkstoffe in ihrer Wirksamkeit immer spezifischer, was wir uns bei der Targeted Therapy zunutze machen“, so Prof. Mathias Freund, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V..
Vor dem Hintergrund einer solch zunehmenden Komplexität in der Krebstherapie ist das generierte Wissen zwar von zentraler Bedeutung, bringt aber gleichsam neue Herausforderungen mit sich, ergänzt Prof. Diana Lüftner, Vorsitzende der DGHO. „Unsere Patienten warten auf neue wirksamere Medikamente. Zunächst müssen wir die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der neu verfügbaren Substanzen aber prüfen und dann zeitnah Therapieschemata entwickeln. Wir haben also viel vor in den nächsten Monaten und Jahren.“
Wissenstransfer und geteilte Entscheidungsfindung
Dass Wissenstransfer und Shared Decision Making Wissens- und Handlungswelten
verbinden, verdeutlicht Dr. Jürg Nadig, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (SGMO). Dabei gelangen in einem formalisierten Prozess neue Erkenntnisse vom Labor über Studien zum Patienten. Beipackzettel fassen dieses Wissen für Patienten verständlich zusammen, damit diese bei der Therapiewahl mitentscheiden können. Parallel dazu werden neue Erkenntnisse in Leitlinien eingearbeitet und publiziert. „Dieser Prozess der Wissensaufbereitung und -vermittlung führt nun aber nicht zu einheitlichen Resultaten“, betont Nadig.
Am Beispiel des Mammakarzinom-Screenings in der Schweiz macht der SGMO Präsident bestehende Konflikte deutlich. „Trotz gleicher Studiendaten könnten die Guidelines zum Mammakarzinom-Screening unterschiedlicher nicht sein.“ Während das Swiss Medical Board empfiehlt, keine weiteren Screening-Programme aufzubauen und die laufenden zeitlich zu begrenzen, unterscheiden sich andere Guidelines sowohl im Beginn (ab 40 oder 50 Jahren) als auch in der Häufigkeit (jährlich oder alle zwei Jahre). „Eine zentrale Frage ist, wer nun festlegt, welche Empfehlung ‚richtig’ ist, und wie sich Patientinnen zurechtfinden, wenn sich Experten uneinig sind. Als salomonische Lösung sollen betroffene Frauen über Nutzen und Risiken so gut informiert werden, dass sie gemäß ihren Präferenzen entscheiden können“, so der Schweizer Krebs-Experte. In diesem Zusammenhang hat eine randomisierte Studie untersucht, wie viele Frauen sich tatsächlich gemäß ihren Präferenzen für oder gegen ein Mammographie-Screening entscheiden konnten. Mit alleiniger Information zu Brustkrebsmortalität und falsch positiven Diagnosen entschieden sich 17 Prozent nach ihren Präferenzen; mit evidenzbasierten Erklärungen und quantitativen Angaben zu Überdiagnostik, Brustkrebsmortalitätsreduktion und falsch positiven Diagnosen waren es 24 Prozent. 83 bzw. 76 Prozent der Frauen entschieden sich trotz dieser Informationen nicht entsprechend ihren Präferenzen. Dass noch viel Arbeit zu tun ist, verdeutlicht Nadig: „Vom Ideal, aufgrund der Evidenz gemäß eigener Präferenzen mitentscheiden zu können, sind wir noch weit entfernt.“
Patientensicherheit
„Im Bereich der Forschung und Entwicklung haben wir viel neues Wissen generiert. Im Rahmen bestehender Versorgungsstrukturen bringen wir diese Informationen im Idealfall zeitgerecht, vollständig, korrekt und gewichtet zu unseren Patienten“, skizziert Dr. Martin Wernli, diesjähriger Kongresspräsident, den Prozess ‚bis zum Krankenbett’. Eine integrale Aufgabe im klinischen Alltag ist es nun, bei der Behandlung von Blut- und Krebskrankheiten ein Höchstmaß an Patientensicherheit zu gewährleisten. „Patientensicherheit ist nicht ohne Grund eines der Schwerpunktthemen der Jahrestagung. Medizinische Fehler und unerwünschte Ereignisse sind ein sehr ernstzunehmendes Problem“, so Wernli, der als Chefarzt am Kantonsspital Aarau tätig ist. In Form einer geometrischen ‚Gefahrenkarte für Patienten’ macht Wernli das Problem deutlich: „Je mehr gemeinsame Schnittmengen die Bereiche ‚Team-Kultur‘, ‚standardisierte Abläufe‘ und ‚optimale Technologie und Technik‘ bilden, desto mehr kann das Risiko für Fehler reduziert werden.“ Ein solcher Ansatz, so Wernli, mache aber auch deutlich, dass Patientensicherheit und damit die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse aus einer systemischen Perspektive begriffen werden müssen. „Gerade in der Krebsmedizin erleben wir derzeit eine dramatische Zunahme von Komplexität. Langfristig werden wir bei der Patientensicherheit nur dann weitere Erfolge erzielen, wenn wir bei Fehlern die traditionelle, eher auf Einzelpersonen fokussierte Sichtweise zugunsten einer Perspektive auf das Gesamtsystem erweitern. Fehlerquellen müssen in gemeinsamer Anstrengung in einer konstruktiven Lern- und Sicherheitskultur proaktiv erkannt und eliminiert werden“, so Wernli.
Dass die gemeinsame Jahrestagung der deutschsprachigen Fachgesellschaften für den Wissens- und Erfahrungsaustausch eine zentrale Plattform bietet, betont Univ.-Prof. Hellmut Samonigg, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (OeGHO). Samonigg, der auch die Vorstellung der Best Abstracts auf der Pressekonferenz moderierte, verwies auf die in den letzten Jahren kontinuierlich wachsende Teilnehmerzahl der Jahrestagungen. „Unsere ärztlichen und pflegerischen Kolleginnen und Kollegen und alle am Behandlungsprozess Beteiligten geben uns sehr positive Rückmeldungen. Die Jahrestagung bietet ihnen Raum für den fachlichen und persönlichen Austausch. Letztlich erleben wir eine solch dramatische Wissenszunahme in der Krebsmedizin, dass wir nur dann erfolgreich sein können, wenn wir alle von diesem Wissen partizipieren“, so Samonigg.
Jahrestagung 2015
Über die Herausforderungen, Chancen und Erfolge der neuen Ansätze in der Diagnostik und Therapie von Blut- und Krebserkrankungen diskutieren vom 9. bis zum 13. Oktober 5.000 nationale und internationale Experten für medikamentöse Tumortherapie auf der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Die mehr als 650 eingereichten wissenschaftlichen Beiträge zeigen die ganze Bandbreite des Faches und unterstreichen die Bedeutung der Jahrestagung als wichtiges Forum für Ärzte, Wissenschaftler, therapeutisches Personal und Pflegekräfte im deutschsprachigen Raum.
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