„Klug entscheiden“ bei Krebspatienten
Die Innovationskraft in der Hämatologie und Onkologie ist nach wie vor ungebremst. Diese Situation eröffnet viele neue Behandlungsperspektiven, gleichzeitig lässt sie aber Therapien auch immer komplexer werden und stellt Ärztinnen und Ärzte in der Patientenversorgung vor enorme Herausforderungen. Anlass genug für die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V im Rahmen der DGIM-Initiative "Klug entscheiden" auch für ihr Fachgebiet Empfehlungen zur Vermeidung von Unter- und Überversorgung zu formulieren. „Der ökonomische Druck in der Medizin nimmt stetig zu. Handlungsleitend für uns Ärztinnen und Ärzte muss aber stets sein, welche diagnostischen und therapeutischen Verfahren dem Stand des Wissens entsprechen, für unsere Patienten wirklich nutzbringend sind, und nicht, welche Maßnahmen ökonomischen Maßgaben folgen“, erklärt Prof. Dr. med. Michael Hallek, Vorsitzender der DGHO, Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Uniklinikum Köln und Mitinitiator der DGIM-Kampagne. „Wir müssen die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen stets daraufhin überprüfen, ob sie zu häufig durchgeführt werden, obwohl ihr Nutzen nicht nachgewiesen ist. Außerdem müssen wir Maßnahmen identifizieren, die trotz nachweisbarem Nutzen zu selten durchgeführt werden", so Hallek weiter. Mit der Kampagne „Klug entscheiden“ will die DGIM mehr Bewusstsein für diese Situation schaffen.
Beispiel: Biomarker und gezielte Therapie
Prof. Diana Lüftner, Mitglied im Vorstand der DGHO und Oberärztin an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie an der Berliner Charité, erläutert im Rahmen der Pressekonferenz die Situation am Beispiel der molekularbiologischen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten: „Die molekulargenetische Tumordiagnostik erlaubt es uns, genetische Mutationen zu identifizieren oder Subgruppen zu definieren, auf deren Basis wir frühzeitig entscheiden können, ob und welche spezifisch wirksamen Medikamente sinnvoll eingesetzt werden können, und wer tatsächlich von diesen Substanzen profitiert.“ Beispielhaft ist die Bestimmung des BCR-ABL-Rearrangements bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML) und der zielgerichteten Therapie mit spezifischen Kinaseinhibitoren. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Fachgesellschaft nur dann eine molekulargenetische Diagnostik durchzuführen, wenn das Vorliegen einer spezifischen genetischen Mutation zum Einsatz einer zielgerichteten und effektiven medikamentösen Therapie führt.
Beispiel: Tumorspezifische Therapie bis zum Lebensende?
Trotz aller medizinischen Fortschritte verstirbt weiterhin etwa die Hälfte der Krebspatienten an den Folgen ihrer Erkrankung. Die besondere Situation von Patienten am Lebensende machte Prof. Dr. med. Florian Weißinger, Mitglied im Vorstand der DGHO und Chefarzt an der Klinik für Innere Medizin, Hämatologie/Onkologie und Palliativmedizin des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld, deutlich. „Die Betreuung von Krebspatienten am Lebensende stellt uns Ärztinnen und Ärzte immer wieder vor große Herausforderungen. So sollten wir uns beispielsweise bewusst sein, dass nicht selten andere subjektive Bedürfnisse der Patienten zu wenig bedacht werden, und dass in der letzten Lebensphase zu intensiv behandelt wird. Aus unserer Sicht sollten belastende onkologische Therapien am Lebensende ohne wesentliche Chance auf klinischen Nutzen unterlassen werden.“ Die Gewichtung tumorspezifischer und symptomorientierter Therapiemaßnahmen, so Weißinger weiter, solle entsprechend den Zielen des Patienten und in enger Absprache zwischen den Fachdisziplinen – beispielsweise mit den Kolleginnen und Kollegen der Palliativmedizin – erfolgen.
„Kluge Entscheidungen“ der DGHO-Mitglieder: Was tun mit den Ergebnissen?
Welche ärztlichen Untersuchungen sind notwendig, welche Therapien sind sinnvoll, und welcher Patient profitiert von welchem Arzneimittel? Diese Fragen müssen sich die in der Hämatologie und Medizinischen Onkologie tätigen Ärztinnen und Ärzte angesichts der Vielzahl an Innovationen immer wieder aufs Neue stellen. Dabei gehe es jetzt vor allem darum, die Empfehlungen zur Vermeidung von Unter- und Überversorgung im Behandlungsalltag zu implementieren“, so Prof. Dr. med. Carsten Bokemeyer, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik für den Bereich Onkologie, Hämatologie und Knochenmarktransplantation mit Sektion Pneumologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Vor dem Hintergrund existierender gesundheitspolitischer und struktureller Rahmenbedingungen“, so Bokemeyer, „müssen wir uns fragen, wie frei Ärztinnen und Ärzte tatsächlich sind, ‚kluge Entscheidungen‘ im Sinne ihrer Patientinnen und Patienten zu treffen“. Ein Ergebnis der Umfrage unter den Mitgliedern der DGHO sei der Wunsch nach einer stärkeren Verankerung der "sprechenden Medizin" und das Plädoyer, den Einsatz von „technischen Maßnahmen“ vor dem Hintergrund der entsprechenden Evidenzen kritisch zu hinterfragen. „Damit die verfügbaren Mittel gerade angesichts der ökonomischen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingen optimal eingesetzt werden können, ist es wichtig, ein Bewusstsein bei den Kolleginnen und Kollegen zu schaffen und unser ärztliches Handeln immer wieder zu hinterfragen. Hierzu leistet die DGIM-Kampagne einen wesentlichen Beitrag.“, so Bokemeyer abschließend.
Die „Klug entscheiden“-Empfehlungen („Negativ-Empfehlungen zur Vermeidung von Überversorgung / „Positiv-Empfehlungen“ zur Vermeidung von Unterversorgung) hat die DGHO nun im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht (siehe Anhang). Aus Sicht der Fachgesellschaft ist eine mögliche Überversorgung in der Hämatologie und Medizinischen Onkologie allerdings das Hauptproblem:
„Negativ-Empfehlungen“ der DGHO zur Vermeidung von Überversorgung
- 1. Computertomographische (CT)-Untersuchungen und/oder Positronenemissionstomographien (PET) bei Patienten mit aggressivem Lymphom und Hodgkin-Lymphom ohne Symptome sollen in der Nachsorge nach Therapieende nicht routinemäßig durchgeführt werden. Routine-CT sind verzichtbar bei asymptomatischen Patienten mit CLL.
- 2. Eine spezifische Therapie bei Patienten mit soliden Tumoren soll nicht durchgeführt werden, wenn alle der folgenden Kriterien vorliegen:
a. schlechter Allgemeinzustand (WHO/ECOG > 2)
b. kein Ansprechen bei vorherigen evidenzbasierten Tumortherapien
c. keine harte Evidenz, die den klinischen Nutzen weiterer Tumortherapie unterstützt.
- 3. Eine antiemetische Behandlung unter Einschluss von NKl-Rezeptor-Antagonisten, welche für hoch emetogene Chemotherapie einschließlich Carboplatin vorgesehen ist, soll unterlassen werden bei Patienten, welche eine Chemotherapie mit niedrigem oder moderatem Risiko für Übelkeit und Erbrechen erhalten.
- 4. Eine gezielte Tumortherapie (Targeted Therapy) soll nur gegeben werden, wenn die Tumorzellen des Patienten den spezifischen Biomarker aufweisen, der ein Ansprechen auf diese Substanz mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt.
Auf die Anwendung von G-CSF im Kontext einer Chemotherapie-induzierten Neutropenie soll in Situationen ohne belegten klinischen Nutzen verzichtet werden. Dies gilt insbesondere bei manifester Neutropenie (außer bei Infekt mit zusätzlichen Risikofaktoren) und prophylaktisch bei niedrigem Risiko einer febrilen Neutropenie (< 20 %).
Über die DGHO
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. besteht seit mehr als 75 Jahren und hat heute mehr als 3.000 Mitglieder, die in der Erforschung und Behandlung hämatologischer und onkologischer Erkrankungen tätig sind. Mit ihrem Engagement in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, mit der Erstellung der Onkopedia-Leitlinien, mit der Wissensdatenbank, mit der Durchführung von Fachtagungen und Fortbildungsseminaren sowie mit ihrem gesundheitspolitischen Engagement fördert die Fachgesellschaft die hochwertige Versorgung von Patientinnen und Patienten im Fachgebiet.
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