Gentest zur Vorbeugung von Chemotherapie-Nebenwirkungen. Alte Substanzen vor neuen Herausforderungen
Fluorouracil in der medizinischen Onkologie – alte Substanzen „revisited“
Dass Fluoropyrimidin-haltige Arzneimittel wie 5-Fluorouracil zu den am häufigsten eingesetzten Zytostatika in der systemischen Tumortherapie gehören, betont Prof. Dr. med. Anke Reinacher-Schick, Chefärztin der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft. „5-Fluorouracil (5-FU) steht auf der WHO Model List of Essential Medicines. Die systemische, intravenöse Gabe von 5-FU ist für die Therapie von Patienten mit fortgeschrittenem kolorektalem Karzinom, Magenkarzinom, Pankreaskarzinom sowie fortgeschrittenem oder metastasiertem Mammakarzinom zugelassen. 5-FU gehört ebenfalls zum Therapiestandard bei Patienten mit lokal begrenztem Kolon- und Rektum-, Magen- und Pankreaskarzinom, beim fortgeschrittenen Ösophaguskarzinom, bei Karzinomen der Kopf-und-Hals-Region und bei anderen, seltenen Tumorentitäten sowohl in lokal begrenzten als auch in fortgeschrittenen Stadien.“
Weiterentwicklungen von 5-FU sind die beiden auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz zugelassenen oralen Prodrugs Capecitabin und Tegafur. Capecitabin ist zugelassen für die Therapie von Patienten mit lokal begrenztem Kolonkarzinom, fortgeschrittenem kolorektalem Karzinom, Magenkarzinom und Mammakarzinom. Es gehört ebenfalls zum Therapiestandard bei Patienten mit lokal begrenztem Rektumkarzinom in Kombination mit Strahlentherapie, bei nicht erreichter pathologisch-kompletter Remission nach neoadjuvanter Chemotherapie beim triplenegativen Mammakarzinom und bei anderen 5-FU-sensitiven Karzinomen. Tegafur ist in der fixen Kombination mit Gimeracil und Oteracil (Teysuno) für die Therapie von Patienten mit fortgeschrittenem Magenkarzinom zugelassen.
Enzymmangel führt zu Nebenwirkungen
5-FU, Capecitabin und Tegafur werden von relativ vielen Patienten gut vertragen. Bei einigen Patienten mit einem Mangel des Enzyms Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) reichert sich Fluorouracil aber im Blut an und führt zu schweren, zum Teil lebensbedrohlichen Nebenwirkungen. „Das Risiko schwerer Nebenwirkungen unter einer FU-haltigen Therapie wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Eine Ursache ist der genetisch bedingte Mangel an Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD), einem für den Abbau von FU verantwortlichen Enzym. Zugrunde liegen Varianten im Dihydropyrimidin-Dehydrogenase-Gen (DPYD). Diese sind selten, bei den Trägern aber mit einem signifikanten Risiko für schwere Nebenwirkungen assoziiert“, so Prof. Dr. med. Lorenz Trümper, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der Universitätsmedizin Göttingen. Etwa 30 Prozent der schweren Toxizitätsreaktionen (WHO Grad 3 bis 4), insbesondere Diarrhoe, Mukositis, Hand-Fuß-Syndrom, Myelosuppression mit tiefer und langdauernder Neutropenie sowie Neurotoxizität, sind durch DPD-Mangel erklärbar. Die Letalität liegt bei 0,2 bis 1 Prozent. Weitere häufige Nebenwirkungen sind Anorexie/Übelkeit/Erbrechen, Kardiotoxizität mit Ischämie- oder Kardiomyopathie-typischen EKG-Veränderungen, Alopezie, Hyper¬urikämie und Erhöhung von Leberwerten.
Vorschläge zur Umsetzung der EMA-Empfehlung: Diagnostik- und Therapiealgorithmus
Vor dem Hintergrund, dass bis zu 9 Prozent der Patienten europäischer Herkunft eine DPD-Genvariante tragen, die zu einer verminderten Aktivität führt, und ca. 0,5 Prozent einen vollständigen Mangel aufweisen, hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) empfohlen, alle Patienten vor einer systemischen Therapie mit den FU-haltigen Arzneimitteln 5-Fluorouracil (5-FU), Capecitabin und Tegafur auf einen DPD-Mangel zu testen. Diese Empfehlung ist bereits Bestandteil der Fachinformationen der betroffenen Arzneimittel. Gemeinsam mit wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat die DGHO Vorschläge zur Umsetzung dieser Empfehlung erarbeitet.
Diese sind:
- Patienten sollen vor einer FU-haltigen Therapie auf die vier häufigsten, genetischen DPYD-Varianten getestet werden.
- Das Ergebnis der genetischen Analyse ist Basis eines differenzierten, risikoadaptierten Algorithmus mit Empfehlungen zur Therapie mit FU-haltigen Arzneimitteln. Die genetische Analyse kann durch therapeutisches Drug Monitoring ergänzt werden.
- Die Umsetzung der Therapieempfehlungen muss unter Berücksichtigung der individuellen Erkrankungssituation und der möglicherweise vorhandenen Therapiealternativen erfolgen.
- Die Testung muss qualitätsgesichert durchgeführt werden. Das Ergebnis soll innerhalb einer Woche vorliegen. Das Ergebnis der Testung ist prädiktiv für die Durchführung der geplanten Chemotherapie und damit obligater Bestandteil der personalisierten Therapieplanung.
„Die Empfehlungen zur personalisierten Dosierung FU-haltiger Arzneimittel können bei einer kleinen Gruppe von Patienten das Risiko schwerer und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen unter einer FU-haltigen Therapie reduzieren und in die leitliniengerechte Versorgung der betroffenen Patienten integriert werden, ohne den Behandlungsverlauf zu verzögern“, so Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der DGHO.
Paradigmenwechsel und umfassender Patientenschutz
Dass es sich bei diesem Themenkomplex um einen Paradigmenwechsel handelt, verdeutlicht Prof. Dr. med. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM):„Eine zentrale Frage in der Therapie von soliden Tumoren der letzten Jahre war: ‚Welcher Patient wird am besten mit welchem Arzneimittel behandelt?‘. Nun haben die EMA und wir als BfArM die Frage umgedreht. Jetzt müssen wir fragen: ‚Welcher Patient sollte mit einem der gängigen Zytostatika aufgrund vorhersehbarer Unverträglichkeit nicht behandelt werden?‘“ Daher sei die genetische Testung auf entsprechende Marker im Sinne eines umfassenden Patientenschutzes ein wichtiger Schritt nach vorn, so Broich weiter.
Das im Rahmen der Pressekonferenz vorgestellte Positionspapier „Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) -Testung vor Einsatz von 5-Fluorouracil, Capecitabin und Tegafur“ kann unter heruntergeladen werden.
Über die DGHO
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. besteht seit über 80 Jahren und hat heute mehr als 3.600 Mitglieder, die in der Erforschung und Behandlung hämatologischer und onkologischer Erkrankungen tätig sind. Mit ihrem Engagement in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, mit der Erstellung der Onkopedia-Leitlinien, mit der Wissensdatenbank, mit der Durchführung von Fachtagungen und Fortbildungsseminaren sowie mit ihrem gesundheitspolitischen Engagement fördert die Fachgesellschaft die hochwertige Versorgung von Patientinnen und Patienten im Fachgebiet. In mehr als 30 Themenzentrierten Arbeitskreisen engagieren sich die Mitglieder für die Weiterentwicklung der Hämatologie und der Medizinischen Onkologie. Zentrale Veranstaltung für den wissenschaftlichen Austausch ist die Jahrestagung mit über 5.500 Teilnehmern, gemeinsam veranstaltet mit der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (OeGHO), der Schweizerischen Gesellschaft für Medizi-nische Onkologie (SGMO) und der Schweizerischen Gesellschaft für Hämatologie (SGH+SSH). Die gemeinsame Jahrestagung findet in diesem Jahr in einem virtuellen Format statt.
(Die angegebene Genderform vertritt alle Geschlechter.)
Aufzeichung:
Die Pressekonferenz wurde aufgezeichnet und steht Ihnen bei YouTube zur Verfügung:
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