Assistierte Selbsttötung bei Krebspatient*innen: Regelungsbedarf und Ermessensspielraum
Trotz großer Fortschritte in der Krebsmedizin verlaufen viele Tumorerkrankungen immer noch tödlich, so dass die medizinische Versorgung und Begleitung von an Krebs erkrankten Menschen in der letzten Lebensphase ein Kernbestandteil der Arbeit von onkologisch tätigen Ärzt*innen ist. „Wir nehmen wahr, dass bei einigen Patientinnen und Patienten trotz optimaler palliativmedizinischer Betreuung der Wunsch besteht, ihrem Leben bei unerträglichem Leiden selbstbestimmt ein Ende zu setzen“, so Prof. Dr. med. Lorenz Trümper, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der Universitätsmedizin Göttingen. „Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts steht die ärztlich assistierte Selbsttötung erneut im Fokus von Debatten – unter anderem in der Politik und in der Ärzteschaft. Als medizinische Fachgesellschaft können und wollen wir die assistierte Selbsttötung nicht moralisch bewerten, weil wir die Wertevorstellungen aller unserer Mitglieder vertreten. In die aktuelle Debatte zu einer angemessenen politischen Regelung bringen wir uns ein, indem wir mit der erneuten Umfrage einen Einblick zu den Einstellungen, Erfah-rungen und zur Handlungspraxis unter unseren Mitgliedern gewinnen. So ergänzen wir die aktuelle – teils auch sehr emotional geführte – Diskussion um die Perspektive praktisch tätiger Onkologinnen und Onkologen und deren Erfahrungen“, so Trümper weiter.
Kontroverse persönliche Einstellungen, geringe Zustimmung zu berufsrechtlichem Verbot
Die persönliche Einstellung zur ärztlich assistierten Selbsttötung unterscheidet sich auch unter praktisch tätigen Onkolog*innen, berichtet Prof. Dr. med. Jan Schildmann, stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Medizin und Ethik der DGHO und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: „Entsprechend der gesellschaftlichen Debatte ist auch unter den Mitgliedern der DGHO die Haltung zur ärztlich assistierten Selbsttötung heterogen. Interessant ist allerdings die geringe Unterstützung für ein berufsrechtliches Verbot.“ Während die Anzahl der Kolleg*innen, die eine ärztlich assistierte Selbsttötung grundsätzlich ablehnen, in etwa so groß ist wie die derer, die eine ärztlich assistierte Selbsttötung grundsätzlich oder unter bestimmten Bedingungen in Betracht ziehen, befürwortet lediglich jeder Vierte ein entsprechendes Verbot.
Frage nach einem Rezept ist kein ärztlicher Alltag
Etwa die Hälfte der Umfrageteilnehmenden ist in ihrem Berufsleben schon einmal um Informationen zum Vorgehen bei einer assistierten Selbsttötung gebeten worden. Bei der konkreten Frage nach einem Rezept für ein tödliches Medikament ist es hingegen nur noch ein Drittel der Befragten, und rechnerisch mehr als neun von zehn Umfrageteilnehmenden geben an, noch nie Assistenz zur Selbsttötung geleistet zu haben. Schildmann, der die Studie federführend umgesetzt hat, verweist darauf, dass es sich bei der assistierten Selbsttötung um kein Alltagsphänomen handelt: „Unsere Zahlen zur Praxis decken sich mit internationalen Daten, nach denen die assistierte Selbsttötung selten ist. Dies gilt auch für Länder, in denen sie unter bestimmten Bedingungen rechtlich möglich ist.“ Wichtig sind ihm Aus- und Weiterbildungsangebote für Ärzt*innen zum professionellen Umgang mit Sterbewünschen. „Der angemessene Umgang mit den vergleichsweise häufigen Anfragen nach Sterbehilfe erfordert ethische und kommunikative Kompetenzen, die in der medizinischen Aus- und Weiterbildung vermittelt werden müssen“, so Schildmann.
Bedingungen für Suizidhilfe und Fragen zur ärztlichen Rolle
Deutliche Prioritäten zeigen sich bei den Bedingungen, unter denen die befragten Onkolog*innen eine Assistenz zur Selbsttötung erwägen würden. Hier werden ‚Freiverantwortlichkeit‘ und ‚unkontrollierbares Leiden‘ mit Abstand am häufigsten genannt. Bei der Frage, ob die Prüfung der Freiverantwortlichkeit als ärztliche Aufgabe verstanden wird, zeigt sich ein heterogenes Bild – wenn auch mit einer Tendenz. Etwa ein Viertel der Umfrageteilnehmenden gibt an, dass die Prüfung ausschließlich von Ärzt*innen durchgeführt werden soll, knapp die Hälfte, dass die Prüfung von Ärzt*innen durchgeführt werden kann, und nur jeder siebte Umfrageteilnehmende hält die Prüfung für keine ärztliche Aufgabe. „Die Diskussion über die assistierte Selbsttötung fordert das ärztliche Selbstverständnis heraus. Es ist daher wichtig, in der Ärzteschaft zu diskutieren, welche Aufgaben aus welchen Gründen von Ärztinnen und Ärzten übernommen werden sollten. Unbenommen davon ist, dass Ärztinnen und Ärzte eine Assistenz immer auch ablehnen können“, so Schildmann. Die Heterogenität bei der Bewertung der ärztlichen Rolle zeigt sich auch bei der Frage, wer ein tödliches Medikament abgeben sollte. Vier von zehn Befragten verstehen die Medikamentenabgabe als ärztliche Aufgabe, jeder Fünfte als optionale Aufgabe für Ärzt*innen, und jeder Vierte gibt hingegen an, dass die Abgabe eines tödlichen Medikamentes nicht durch Ärzt*innen erfolgen sollte.
Beratung und Qualitätssicherung
Der Aussage, dass die Beratung von Patient*innen eine ärztliche Aufgabe ist, stimmt ein Drittel der befragten Onkolog*innen zu, vier von zehn sehen die Beratung als optionale ärztliche Aufgabe, und nur jeder zehnte Umfrageteilnehmende gibt an, dass die Beratung nicht von Ärzt*innen durchgeführt werden sollte. „Dieser Befund macht zwar die Heterogenität unter den Befragten deutlich, zeigt aber auch, dass – zumindest im Grundsatz – die Mehrheit unserer onkologisch tätigen Kolleginnen und Kollegen die Beratung als eine ärztliche Aufgabe begreift. Darüber hinaus zeigen uns die Zahlen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die ihre Patientinnen und Patienten oftmals über viele Jahre behandeln und daher auch sehr gut kennen, sie auch in existenziellen Lebensphasen begleiten und nicht allein lassen möchten“, so Prof. Dr. med. Eva Winkler, Vorsitzende des DGHO-Arbeitskreises Medizin und Ethik, Oberärztin und Leiterin der Sektion ‚Translationale Medizinethik‘ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an der Universitätsklinik Heidelberg. Dass für den Fall einer rechtlichen Regelung der ärztlich assistierten Selbsttötung auch Vorgaben zur Qualitätssicherung implementiert werden sollten, befürwortet mit sieben von zehn Umfrageteilnehmenden eine deutliche Mehrheit. „Auch für die konkreten Maßnahmen zur Qualitätssicherung sehen wir Zustimmungen“, so Winkler weiter. Sechs von zehn der befragten onkologisch tätigen Ärzt*innen geben ‚Meldepflicht der Beratung‘, Meldepflicht der Rezeptausgabe‘ und ‚Begleitforschung‘ als qualitätssichernde Maßnahme an, bei dem Punkt ‚Ärztliche Fortbildungen‘ sind die Zustimmungswerte sogar noch etwas höher.
Regelungsbedarf und Ermessensspielraum
„Mit Blick auf die Interpretation der Ergebnisse sehen wir, dass seitens unserer Kolleginnen und Kollegen der Wunsch nach einem Regelungsbedarf besteht, in dessen Rahmen Ärztinnen und Ärzte sowohl offen als auch differenziert und bedacht mit den von Patientinnen und Patienten vergleichsweise häufig vorgebrachten Sterbewünschen umgehen können“, so Prof. Dr. med. Maike de Wit, Mitglied im Vorstand der DGHO und Chefärztin der Klinik für Innere Medizin – Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln. „Gleichzeitig muss zum Schutz der Patientinnen und Patienten gewährleistet sein, dass Freiverantwortlichkeit, Information, insbesondere über palliativmedizinische Maßnahmen sowie Ernst- und Dauerhaftigkeit eines Anliegens bezüglich der assistierten Selbsttötung geprüft werden können.“
Schildmann erläutert in diesem Zusammenhang: „Die Umfrageteilnehmenden unterscheiden zwischen persönlichen moralischen Bewertungen und angemessenen Regelungen. Pauschale Verbote werden den schwierigen individuellen Entscheidungssituationen nicht gerecht, wir benötigen differenzierte und tragfähige Regelungen. Die Umfrageergebnisse bieten hierfür Ansatzpunkte.“
Trümper ergänzt: „Die Betreuung von Menschen am Lebensende ist eine besondere Herausforderung für Arztinnen und Ärzte. Dabei bleibt die Anfrage nach einer ärztlich assistierten Selbsttötung immer eine Ausnahmesituation. Für diese existenziellen Situationen braucht es für Betroffene sowie für Ärztinnen und Ärzte Ermessensspielraum. Wir schlagen die Förderung untergesetzlicher Lösungen zur Sicherung der ärztlichen Zuwendung für diese Patientinnen und Patienten ohne Strafandrohungen bei gleichzeitiger Gewährleistung von Sorgfalt und Versorgungsqualität vor.“
Die Mitgliederumfrage der DGHO wurde vom 12. bis zum 31. März 2021 durchgeführt. Der Umfragelink wurde an 3.588 DGHO-Mitglieder versendet. 750 Mitglieder haben an der Umfrage teilgenommen. Das entspricht einer Rücklaufquote von 20,76 Prozent.
Über die DGHO
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie
e. V. besteht seit über 80 Jahren und hat heute ca. 3.600 Mitglieder, die in der Erforschung und Behandlung hämatologischer und onkologischer Erkrankungen tätig sind. Mit ihrem Engagement in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, mit der Erstellung der Onkopedia-Leitlinien, mit der Wissensdatenbank, mit der Durchführung von Fachtagungen und Fortbildungsseminaren sowie mit ihrem gesund-heitspolitischen Engagement fördert die Fachgesellschaft die hochwertige Versorgung von Patientinnen und Patienten im Fachgebiet. In mehr als 30 Themen-zentrierten Arbeitskreisen engagieren sich die Mitglieder für die Weiterentwicklung der Hämatologie und der Medizinischen Onkologie.
Informationen unter: www.dgho.de
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