„Recht auf Vergessenwerden“ – Benachteiligungen von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen jetzt auch in Deutschland stoppen
Jedes Jahr erkranken in der Bundesrepublik Deutschland etwa 16.500 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 39 Jahren an Krebs. Dank der Fortschritte in Diagnostik und Therapie von Blut- und Krebserkrankungen können heute mehr als 80 Prozent der jungen Patientinnen und Patienten geheilt werden. Die medizinischen Innovationen führen zu einer steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden („Survivors“). Neben den medizinischen Spät- und Langzeitfolgen rücken damit zunehmend auch soziale Aspekte in den Fokus.
Benachteiligungen in vielerlei Hinsicht
Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen in vielerlei Hinsicht. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.
Umfrage unter den Betroffenen zeigt Benachteiligungen
Im Rahmen einer Online-Umfrage unter jungen Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen hatte die DSfjEmK konkrete Benachteiligungen abgefragt. Mit 40 Prozent gab die deutliche Mehrheit der Befragten Benachteiligungen im Bereich ‚Versicherungen‘ an. So beklagten die Betroffenen beispielsweise, dass der Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht oder nur zu sehr schlechten Konditionen möglich sei. Weitere Benachteiligungen wurden beispielweise im beruflichen Kontext genannt. So waren hier beispielsweise – trotz überstandener Heilungsbewährung – keine Verbeamtungen möglich. Ebenfalls wurden konkrete Benachteiligungen beim Abschluss von Krankenversicherungen, bei der Bewilligung von Krediten oder bei dem Wunsch nach einer Adoption angegeben.
„Die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs und die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie kritisieren diese Ungleichbehandlung, und wir fordern ein ‚Recht auf Vergessenwerden‘. In der Praxis muss dies bedeuten, dass Versicherungen oder Banken nach einer gewissen Zeit der Heilungsbewährung die frühere Krebserkrankung nicht mehr berücksichtigen dürfen. Ähnliche Regelungen müssen auch im Bereich der Verbeamtung und Adoption geschaffen werden“, fordert Prof. Dr. med. Inken Hilgendorf, Kuratoriumsvorsitzende der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs und Sektionsleiterin für Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Jena.
Recht auf Vergessenwerden – was ist das überhaupt?
Das „Recht auf Vergessenwerden“, international als „right to be forgotten“ bezeichnet, bezieht sich im Kern darauf, dass digitale Informationen mit Personenbezug nicht dauerhaft gespeichert, sondern nach einer bestimmten Zeit gelöscht werden sollten. Im Jahr 2023 wurde mit der EU-Verbraucherkreditrichtlinie erstmals eine gesetzliche Bestimmung geschaffen, nach der die EU-Mitgliedstaaten die Verwendung von Gesundheitsdaten in Bezug auf Krebserkrankungen nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht mehr zulassen dürfen, wenn Versicherungen im Zusammenhang mit Verbraucherkreditvereinbarungen abgeschlossen werden.
Umsetzung in nationales Recht – Deutschland hängt massiv hinterher
„Zwar ist der Rechtsrahmen für einen grundlegenden Schutz vor Diskriminierung und Benachteiligung über die EU-Verbraucherschutzrichtlinie hinaus durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die UN-Behindertenkonvention gegeben, dennoch bestehen in Deutschland weiterhin gesetzliche Schlupflöcher“, so Prof. Dr. med. Andreas Hochhaus, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Abteilung für Hämatologie und Internistische Onkologie am Universitätsklinikum Jena.
So darf beispielsweise eine Versicherungsgesellschaft nach dem Gendiagnostikgesetz vor und nach Vertragsabschluss Ergebnisse aus bereits durchgeführten genetischen Untersuchungen verlangen und mit Blick auf die Risikoberechnung verwenden. Dies gilt für Lebensversicherungen, Berufsunfähigkeitsversicherungen, Erwerbsunfähigkeitsversicherungen und Pflegerentenversicherungen, wenn eine Leistung von mehr als 300.000 Euro oder eine Jahresrente von mehr als 30.000 Euro vereinbart wird.
„Unser Bestreben muss es daher sein, Krebsüberlebende vor Benachteiligungen und Diskriminierungen nach der sogenannten ‚Heilungsbewährung‘ zu schützen. Mit Blick auf die Umsetzung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinkt die Bundesrepublik Deutschland leider deutlich hinterher“, so Hochhaus weiter.
Nach der Krebserkrankung folgt das soziale Stigma
Dass Fragen rund um die Umsetzung in nationales Recht für junge Betroffene zu sehr konkreten Benachteiligungen führen, machen Lisa und Michelle deutlich.
Lisa: „Ich habe gegen meine Krankheit und für mein Leben gekämpft. Danach Benachteiligung in Form fehlender Möglichkeiten zu erfahren, wie beim Abschluss einer Absicherung für meine Familie, fühlte sich wie ein weiterer Kampf und eine Abstempelung als Erkrankte an. Ich wünsche mir durch das ‚Recht auf Vergessenwerden‘ vor allem eines: dass meine Krankheit und die weiterer Betroffener in den Hintergrund rücken, und dass wir als das gesehen werden, was wir sind – ein Leben mit all seinen Möglichkeiten!“
Michelle: „Als ich angefangen habe, mich mit dem Thema Berufsunfähigkeitsversicherung auseinanderzusetzen und diesbezüglich eine Beratung in Anspruch genommen habe, war ich enttäuscht, als mir gesagt wurde, dass eine so weit zurückliegende Krebserkrankung ein Ausschlusskriterium für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung ist. Ich wünsche mir sehr, dass eine Erkrankung, die so lange zurückliegt, behandelt und geheilt ist, zukünftig kein solches Kriterium mehr darstellt."
Gesundheitspolitische Schriftenreihe – erster umfassender Überblick
Nach den Themen „Krebs und Kinderwunsch“ sowie „Krebs und Armut“ greifen die DGHO und die DSfjEmK mit dem 22. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe mit dem Themenkomplex „Recht auf Vergessenwerden“ erneut ein für junge Erwachsene mit Krebs zentrales Thema auf. Neben der detaillierten Darstellung der Umfrageergebnisse erfolgt eine juristische Einordnung, eine europäische Kontextualisierung und abschließend eine Ableitung von Forderungen.
„Unser Ziel ist es, sowohl die Laien- als auch die Fachöffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, den notwendigen gesundheitspolitischen Diskurs anzustoßen und damit die leider immer noch bestehenden Benachteiligungen von jungen Erwachsenen mit Krebs abzubauen“, betont Hilgendorf.
Der 22. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe der DGHO „Recht auf Vergessenwerden – Keine Benachteiligungen von jungen Erwachsenen mit Krebs mehr zulassen“ kann unter https://www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/junge-erwachsene heruntergeladen werden.
Über die DGHO
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. besteht seit 85 Jahren und hat heute mehr als 4.000 Mitglieder, die in der Erforschung und Behandlung hämatologischer und onkologischer Erkrankungen tätig sind. Mit ihrem Engagement in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, mit der Erstellung der Onkopedia-Leitlinien, mit der Wissensdatenbank, mit der Durchführung von Fachtagungen und Fortbildungsseminaren sowie mit ihrem gesundheitspolitischen Engagement fördert die Fachgesellschaft die hochwertige Versorgung von Patientinnen und Patienten im Fachgebiet.
Über die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Jährlich erkranken 15.000 junge Frauen und Männer im Alter von 18 bis 39 Jahren neu an Krebs. Die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs ist Ansprechpartnerin für Patienten, Angehörige, Wissenschaftler, Unterstützer und die Öffentlichkeit. Die Stiftungsprojekte werden in enger Kooperation mit den jungen Patientinnen und Patienten, Fachärztinnen und -ärzten sowie anderen Expertinnen und Experten entwickelt und bieten direkte und kompetente Unterstützung für die Betroffenen in ihrem Alltag mit der schweren Erkrankung. Dabei arbeitet die Stiftung inzwischen mit über 900 jungen Betroffenen zusammen. Die Stiftung ist im Juli 2014 von der DGHO e. V. gegründet worden. Ihre Arbeit ist als gemeinnützig anerkannt und wird ausschließlich durch Spenden finanziert.
Spendenkonto der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs:
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE37 3702 0500 0001 8090 01, BIC: BFSW DE33 XXX
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und
Medizinische Onkologie e.V. / DGHO Hauptstadtbüro
V. i. S. d. P. Prof. Dr. med. Andreas Hochhaus
Michael Oldenburg
Tel.: 030 / 27 87 60 89 – 0
E-Mail: oldenburg@dgho.de
Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Felix Pawlowski
Tel.: 030 / 28 09 30 56 2
E-Mail: f.pawlowski@junge-erwachsene-mit-krebs.de
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Kirsten Thellmann
Tel.: 0761 / 70 76 – 904
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